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Herbst 1939 in Torgau: Die zwei Eröffnungen der späteren Filmbühne

Zeitzeugen-Gespräche machen die Vergangenheit oft begreifbarer. Manchmal vervollständigen sie auch unser bisheriges Geschichtsbild – und stellen es bisweilen in Frage.

Sie sind eine Besonderheit in der Geschichtswissenschaft: Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Im Unterschied zu offiziellen historischen Quellen – wie Akten, Zeitungsartikel, Filme – erzählen sie ihre Geschichte(n) aus einem zusätzlichen, persönlichen Blickwinkel, der subjektive Erfahrungen mit einschließt. Deshalb bereichert Oral History (dt.: mündlich überlieferte Geschichte) zweifellos die heutige Zeitgeschichtsforschung.

Doch wenn die letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sterben, geht damit auch immer ein Stück Erinnerungskultur unwiederbringlich verloren, also der Umgang des Einzelnen und der Gesellschaft mit der Vergangenheit. Das gilt gerade für das 20. Jahrhundert – mit seinen verheerenden Katastrophen, politischen Umwälzungen und schwierigen Neuanfängen.

Zeitzeugen-Gespräch mit Wolfgang Fürstenhaupt

Deshalb ist ein Glücksfall, wenn Zeitzeugen-Gespräche einstmals aufgezeichnet wurden und für die Nachwelt erhalten geblieben sind. So geschehen im Jahr 2004 als René Wegler, Redaktionsleiter beim Regionalfernsehen Torgau-TV, den ehemaligen Filmvorführer Wolfgang Fürstenhaupt (19.5.1927–28.2.2013) für die Sendung „Torgau – Deine Kinos. Ein Streifzug durch die Torgauer Kinogeschichte“ befragte.

Zeitzeugen-Gespräch: Wolfgang Fürstenhaupt (1927–2013) im Jahr 2004 / Quelle: Torgau-TV
Zeitzeugen-Gespräch: Wolfgang Fürstenhaupt (1927–2013) im Jahr 2004 / Quelle: Torgau-TV

Der damals 77-jährige Fürstenhaupt galt als versierter Kenner der Torgauer Kinolandschaft. Einen Teil seiner Kindheit und frühen Jugend verbrachte er im nationalsozialistischen Deutschland. Als Zwölfjähriger, so erzählte er im TV-Interview, hatte er am 1. September 1939 die Eröffnung des Torgauer Kino-Neubaus „Theater am Friedrichplatz“ (später: „Filmbühne“) miterlebt. Trotz Verbot.

„Es war eine rauschende Ballnacht“ erst ab 18

Denn der Zutritt zur Veranstaltung, „wo Nazi-Größen anwesend waren, alle in Uniform“, zudem geladene Gäste und auch Kinobesitzer Heinrich Homann, sei ausschließlich Erwachsenen gestattet gewesen. Das lag vor allem am Eröffnungsfilm: Das Melodram „Es war eine rauschende Ballnacht“ mit Zarah Leander dufte erst ab 18 Jahren geschaut werden.

Es war eine rauschende Ballnacht (D 1939): Zarah Leander und Hans Stüwe / Quelle: Murnau-Stiftung/DIF
Es war eine rauschende Ballnacht (D 1939): Zarah Leander und Hans Stüwe / Quelle: Murnau-Stiftung/DIF

Doch der Junge hatte einen guten Draht zur Besitzerfamilie Homann, kannte das Kinogebäude in- und auswendig und guckte sich den Film – versteckt im Dunkel des Zuschauersaals – trotzdem an. Fürstenhaupts Erinnerungen als Zeitzeuge machen dabei noch etwas Grundsätzliches deutlich: Sie vervollständigen das bisherige Geschichtsbild.

Die zwei Eröffnungen der späteren Filmbühne

Denn bislang galt in der Forschung als gesetzt, dass das neu gebaute Kinogebäude in Torgau erst am 21. Oktober 1939 „in einer kurzen Feierstunde“ eröffnet wurde. Das schrieb nämlich die in Berlin erscheinende Film-Tageszeitung „Film-Kurier“ in einem Artikel vom 15. November 1939. Als offizielle historische Quelle genießt sie zwar Glaubwürdigkeit, ist aber in einer gleichgeschalteten Presse auch immer angreifbar.

Eine These: Es gab zwei Eröffnungen. Die erste am Freitag, den 1. September 1939 – dem Tag des deutschen Überfalls auf Polen – war schon länger geplant. Trotz der politisch neuen Situation wurde die Veranstaltung nicht kurzfristig abgesagt, sondern fand dennoch statt. Ohne viel Presse. Am Samstag, den 21. Oktober – gut 14 Tage nach dem Ende des faschistischen Angriffs am 6. Oktober 1939 – wurde nochmals eine kleinere Feier abgehalten.

Mit dabei waren laut „Film-Kurier“ der Torgauer Bürgermeister Wilhelm Höger (1890–[Sterbejahr unbekannt]), der Leipziger Architekt Max Schnabel (1903–1986) und NS-Schriftsteller Walter Steinhauer. Ob diese These stimmt, sollen weitere zusätzliche Quellenrecherchen zeigen.

Wehrmachtssoldat, Kriegsgefangener, Filmvorführer-Lehrling

Das Ende des Zweiten Weltkrieges erlebte Fürstenhaupt ab 1944 als 17-jähriger Wehrmachtssoldat, kam in Kriegsgefangenschaft und erst 1949 nach Torgau zurück. Dort fing er wenig später als Elektriker in dem jetzt in „Filmbühne“ umbenannten Kino am Friedrichplatz an.

Ehemaliges „Metropol-Theater“: Es befand sich in der Torgauer Spitalstraße 32 / Foto: Ron Schlesinger
Ehemaliges „Metropol-Theater“: Es befand sich in der Torgauer Spitalstraße 32 / Foto: Ron Schlesinger

Zudem begann er ab 1. Oktober 1949 eine Lehre als Filmvorführer im zweiten Torgauer Kino: dem „Metropol-Theater“ in der Spitalstraße 23. Das dritte Kino, die „Schützenhaus-Lichtspiele“ (heute: Kulturhaus) am Rosa-Luxemburg-Platz, war zu diesem Zeitpunkt auch noch in Betrieb.

Weil alle Filmvorführer-Posten in Torgau besetzt waren, wurde ihm 1950 jeweils eine halbe Stelle im „Lichtspiel-Theater Beilrode“ und im „Capitol Belgern“ angeboten – die er beide annahm. Wenige Monate zuvor war allerdings die DDR gegründet worden.

„Das war natürlich ein Problem“

Und das machte sich auch in Fürstenhaupts Arbeit bemerkbar, zum Beispiel wenn er Werbung für Filme mit propagandistischer Färbung, wie „Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse“ (DDR 1954), machen musste. „Das war natürlich ein Problem“, so Fürstenhaupt. Weil sich die Filme fast niemand anschauen wollte.

Seine Leute und er schafften es trotzdem, in den Betrieben die Gewerkschafter oder Parteisekretäre zu überzeugen, Karten für ihre Belegschaft abzunehmen und diese ins Kino zu schicken. So konnte „Neues Deutschland“ (ND) am 18. März 1954 stolz nach dem Start von „Ernst Thälmann“ berichten: „300.000 Besucher in der DDR innerhalb von drei Tagen“. Auch wenn die meisten ungern im Kino gewesen sein mochten.

Westdeutsche „Schnulzenfilme“ im DDR-Kino

Dass das Kino Mitte der 1960er-Jahre an Attraktivität verlor, machte sich auch in ostdeutschen Kleinstädten wie Torgau bemerkbar. Ein Grund sei das Fernsehen gewesen, das sich zunehmend als Konkurrenzmedium etablierte. Nur westdeutsche „Schnulzenfilme“ wie „Wenn der weiße Flieder wieder blüht“ (BRD 1953, DDR-Kinostart: 14.1.1955) oder „Feuerwerk“ (BRD 1954, DDR-Kinostart: 27.5.1955) liefen weiterhin gut, so Fürstenhaupt, der noch einige Jahre als Filmvorführer arbeitete.

Feuerwerk (BRD 1954): Lilli Palmer (r.) spielt in der Filmkomödie von Kurt Hoffmann mit / Quelle: DIF
Feuerwerk (BRD 1954): Lilli Palmer (r.) spielt in der Filmkomödie von Kurt Hoffmann mit / Quelle: DIF

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Vor genau zehn Jahren – am 28. Februar 2013 – starb Wolfgang Fürstenhaupt im Alter von 85 Jahren. Sein ganz persönliches Zeitzeugen-Gespräch ist aber erhalten geblieben und vervollständigt unser heutiges Geschichtsbild der einstigen Torgauer Kinolandschaft.

Verwendete Quellen:

  • C. R.: Neu- und Umbauten. Theater am Friedrichplatz in Torgau. In: Film-Kurier 21 (1939), Nr. 267, 15.11.1939, Ausgabe: T, S. 4.
  • Torgau – Deine Kinos. Ein Streifzug durch die Torgauer Kinogeschichte (BRD, 2004/2007, Redaktion und Regie: René Wegler, Produktion: Torgau-TV, Regionalfernsehen)
  • [o. A.]: 1.200 Westberliner sahen Ernst-Thälmann-Film. 300.000 Besucher in der DDR in drei Tagen. In: Neues Deutschland 9 (1954), Nr. 65, 18.3.1954, Berliner Ausgabe „Vorwärts“, S. 1.


Headerfoto: Filmbühne (links) am Martha-Brautzsch-Platz (heute: Friedrichplatz), Aufnahme: 1968 / Quelle: PGH Film und Bild/Berlin/Manfred und Erdmute Bräunlich/Privat

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