Es ist die erste Fernsehreportage, die sich der Elbestadt widmet. Freilich ist sie von ihrer Entstehungszeit geprägt. Dennoch lohnt ein Blick zurück ins Torgau der 1960er-Jahre.
Als der Deutsche Fernsehfunk (DFF) am 1. November 1961 „Kleine Stadt im November. Reportage aus Barth“ ausstrahlt, bekommt sie gute Kritiken. „Alles Sehens- und Hörenswerte […] war schlicht und übersichtlich im Erzählton aneinandergereiht“, schreibt die „Neue Zeit“ (5.11.1961) über die Sendung, die Tradition und Alltag in der Ostseestadt vorstellte. Und auch die „Berliner Zeitung“ lobte, „daß eine einfühlsame und durchdachte Gestaltung […] jeden Anschein von Trockenheit und Leere zu nehmen mag“ (4.11.1961).
Redaktionell erdacht hat die Reportage Hubert Kintscher. Eigentlich berichtet der Mitte 30-jährige Fernsehjournalist aus Asien („China – der ferne Nachbar“, 25.3.1958; „Tibet – Frühling im Schneeland“, 6.1.1960) und Afrika oder schreibt Reisebücher, z. B. über Indonesien („Lockend tönt das Gamelan“, 1961). Manchmal kommentiert er das Zeitgeschehen, z. B. die Panik von US-Bürgern vor möglichen Angriffen der Sowjetunion („Aktuelle Kamera“, 15.7.1961):
Gleichzeitig ist er aber auch in seiner Heimat DDR unterwegs und produziert kurze, halbstündige Städteporträts, wie eben über Barth – oder ein Jahr später: über Torgau.
„Begegnungen in Torgau – Eine Reportage aus der Stadt an der Elbe“
Die Premiere ist am 26. April 1962 im DFF. Der Titel: „Begegnungen in Torgau – Eine Reportage aus der kleinen Stadt an der Elbe“. Der Sendetermin kommt nicht von ungefähr. Denn 17 Jahre zuvor, am 25. April 1945, trafen US-amerikanische und sowjetische Soldaten auf der zerstörten Elbbrücke bei Torgau aufeinander und besiegelten symbolisch das Ende des Zweiten Weltkrieges.
Trotzdem gehört der Beginn der in Schwarzweiß gedrehten Fernsehreportage einem anderen Ereignis, das weitaus früher stattfand und friedlich endete: der Auszug der „Torgauer Geharnischten“, einer kurfürstlichen Bürgerwehr. Die marschierte im Jahre 1542 gen Wurzen, um Steuern einzutreiben. Doch der Kampf blieb aus; man einigte sich gütlich. Die Tradition des Auszugs blieb und wurde bis ins 20. Jahrhundert in Auszugsfesten gefeiert.
„Feudale Kriegervereinstradition“
Bebildert ist diese von Hubert Kintscher ironisch-kritisch erzählte „feudale Kriegervereinstradition“ (O-Ton), die in der DDR nicht gepflegt wird, mit einem „Kinderspiel“ (O-Ton): Schuljungs liefern sich mit Papier-Helm, Holzschwert und Topfdeckel einen Ritterkampf.
Erst danach berichtet Kintscher – jetzt selbst vor der Kamera, neben der Torgauer Elbbrücke – über die Ereignisse in den letzten Kriegstagen 1945. „Diese Begegnung […]“, sagt er, „war gleichzeitig auch das Ende des ehrlichen Kampfes gegen den Faschismus. Was in unserem Staat restlos ausgetilgt wurde, wurde im Westen wieder großgezogen.“
Man kann diese ideologische Zuspitzung, die auch an vielen anderen Stellen der Reportage durchschimmert, mit dem Kalten Krieg erklären. Man kann sie hier aber auch als versteckte biografische Botschaft deuten, mit der er seine Kindheitserlebnisse verarbeitet und sich deshalb für ein neues, friedliebendes Deutschland einsetzt.
„Ich klage an!“
Denn ein Hubert Kintscher, der als Teenager die Gräuel des Krieges erlebte, machte im Juli 1946 als 21-Jähriger im „Neuen Deutschland“ (ND) von sich reden. Die Tageszeitung rief unter dem Titel „Durchbruch der Jugend“ zu einem Dichterwettbewerb auf, für den junge Menschen ihre Gedanken über ihr Leben aufschreiben sollten. Hunderte Einsendungen erreichten die Redaktion. Kintscher beteiligte sich und rechnete in „Ich klage an!“ mit seinem ehemaligen Klassenlehrer ab, einem glühenden Nationalsozialisten, der seine Schüler am Ende noch aufgefordert hatte, sich „freiwillig zu melden“. Die ND-Redaktion wählte Kintschers Text als einen der vier besten aus.
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Bislang fehlt eine gesicherte Quelle, aber es spricht vieles dafür, dass dieser junge Hubert Kintscher, der 1946 an dem ND-Wettbewerb teilnahm, derselbe ist, der 15 Jahre später für den DFF als Fernsehjournalist arbeitet und in Torgau filmt. Dass Kintscher dabei nicht nur im Weltanschaulichen verharrt, machen die städtischen Alltagsszenen deutlich, die sein Kameramann Klaus Winter in poetischen, lebensnahen Bildern aufnimmt. Da verteilt am Morgen eine Briefträgerin Zeitungen und Post oder ein kleiner Junge mit Ranzen läuft verträumt die obere Ritterstraße entlang.
Viertklässler einer POS
Gleichwohl wird die Reportage nur wenige Monate nach dem Bau der Berliner Mauer gesendet, oder wie es offiziell heißt: des antifaschistischen Schutzwalls. Vor diesem Hintergrund soll die Filmreihe vermutlich auch das Heimatgefühl stärken, bisherige Erfolge in Bildung, Wohnen, Warenangebot und Wirtschaft hervorheben sowie Zukunftsvisionen vermitteln.
So besuchen die Filmemacher die Viertklässler einer polytechnischen Oberschule (POS): Diese neue zehnklassige Schulform entstand erst 1959 in der DDR und löste die bisherigen Grund- sowie Mittelschulen ab. Hier erzählen zwei Kinder über ihre Heimatstadt Torgau, genauer gesagt über zwei Volkseigene Betriebe (VEB), die den Ort seit Jahrzehnten prägen: das Flachglaswerk, das Anfang der 1960er-Jahre unter großen Anstrengungen zum Kombinat erweitert wird, und das Steingutwerk (vormals: Villeroy und Boch), in dem die Patenbrigade „Manolis Glezos“ der Klasse arbeitet.
(Glezos ist im Übrigen ein griechischer Widerstandskämpfer, den 1965 sogar die „Aktuelle Kamera“ interviewt.)
Flachglaswerk und Steingutwerk
Beide für die DDR-Wirtschaft immens wichtigen Betriebe werden in der Reportage entsprechend breit in Szene gesetzt, wie auch die Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft (LPG) „Brückenkopf“ mit ihrer Schweinemast, der zum VEB Fleischkombinat Leipzig gehörende Schlachthof Torgau und die Produktionsgenossenschaft des Handwerks (PGH) „Hans Sachs“, die Schuhe produziert.
Das mag manchmal wie in einem sozialistischen Industriefilm anmuten. Doch die Filmemacher, allen voran die Schnittmeisterin Annemarie Reinort, vergessen dabei die Kunst der Reportage nicht, nämlich das ‚Erzählen’ – und verbinden die einzelnen „Begegnungen“ beziehungsweise Kameraeinstellungen geschickt miteinander: sowohl bildlich als auch erzählerisch („vom lebenden Vieh bis zum verarbeiteten Leder“, O-Ton).
Ingenieur, Schichtleiterin, Brigadier
Oder sie wechseln oft die Perspektive. So spricht der Ingenieur Karl Hoppe im Steingutwerk vor der Kamera über seine erfundene Vakuumgießmaschine (die es 1963 in die DEFA-Wochenschau „Der Augenzeuge“ schafft) und eine PGH-Schichtleiterin fordert in der Stepperei „eine gute Qualität des Leders“ (O-Ton) für die Schuhherstellung ein. Freilich wirken die meisten Sätze heute wie auswendig gelernt und lassen Lebendigkeit und Glaubwürdigkeit vermissen.
Originell sind dagegen die Gedanken des Brigadiers Winkler wiedergegeben, die als sogenannter Voice-over über die Filmbilder gelegt werden: Der junge Familienvater erzählt, was ihm so durch den Kopf geht, locker und ungekünstelt, eben wie ein Arbeiter so denkt und spricht. Dabei zeigt die Kamera den Wahltorgauer morgens beim Rasieren, wie er sich von Sohn Andreas verabschiedet und mit dem Rad zur Arbeit fährt (von der Altbauwohnung in der Katharinenstraße durch die Ritterstraße und Wolffersdorffstraße) auf die Baustelle des Flachglaskombinats.
„Je früher der Morgen, je größer der Ärger“
Hier erzählt Winkler augenzwinkernd über große und kleine Probleme am Bau („je früher der Morgen, je größer der Ärger“). Und: „Jeder denkt nur an sich, dabei sind wird doch eine Brigade“ (O-Ton) – in der sich der Jüngste demnächst freiwillig für den Wehrdienst meldet („Soldat auf Zeit“).
Erst am 24. Januar 1962 wird in der DDR die allgemeine Wehrpflicht eingeführt, zuvor war die Nationale Volksarmee (NVA) nur eine Freiwilligenarmee. Das kann ein Beleg dafür sein, dass die Reportage schon 1961 gedreht wird (ein genaues Produktionsdatum ist unbekannt). Abseits dieser Werbung für die NVA gelingen der Kamera gute Bilder, so wenn Maurer beim Verlegen der Ziegelsteine für riesige Schornsteine von oben gefilmt werden.
Neubaugebiet Eilenburger Straße
Neben Industriebau und Einzelhandel, der „auf Teilselbstbedienung umstellte und den Umsatz wesentlich steigerte“ (O-Ton), rückt die Reportage auch die verbesserte Wohnungssituation in Torgau ins rechte Licht: Ist am Beginn das Neubaugebiet Eilenburger Straße zu sehen, in dem laut Sprecher bislang 1.150 Wohnungen entstanden, so schaut sich am Ende Brigadiersfamilie Winkler ihre neue Zwei-Zimmer-Wohnung an, die sich allerdings noch im Rohbau befindet.
Dennoch geben die Bilder durchaus das damalige rasante Wohnungsbautempo in der DDR wider: 85.000 neugebaute Wohnungen im Jahr 1961 – ein Rekord, der erst wieder 1974 mit 87.500 Wohnungen erreicht wird (vgl. Hinrichs 1992, S. 7). Gleichzeitig werden Altbau-Wohngebäude vernachlässigt – und zudem stigmatisiert. Denn: „Spitze Giebel und enge Hinterhöfe sind meist nur für den Besucher malerisch. Wohnen möchte dort niemand gern“ (O-Ton).
Keine Schlosskirche, keine Marienkirche
Ohnehin verbleibt das bauliche Erbe des damals fast 1.000-jährigen Torgau im Hintergrund; allenfalls ist das Schloss Hartenfels ausführlich in Bildern und Text erwähnt. Doch weder die von Martin Luther 1544 eingeweihte Schlosskirche noch die Marienkirche, in der sich ein Grabstein der 1552 in Torgau verstorbenen Frau Luthers, Katharina von Bora, befindet, kommen vor.
Mitunter ist die Vorgänger-Reportage aus Barth daran schuld. Denn hier wird dem Superintendenten „ausführlich Gelegenheit gegeben, in einem Rundgang die kostbare Kunst seiner Kirche zu zeigen und auch vom lebendigen Leben in seiner Gemeinde zu berichten“ (Neue Zeit, 5.11.1961). Das gefiel sicher nicht jedem Fernsehverantwortlichen beim DFF und schied deshalb für Torgau aus.
„Hier wurde bestraft und geprügelt“
Dafür wird dessen Rolle als preußische Garnisonstadt kritisch hervorgehoben. Gezeigt ist unter anderem die Kaserne auf dem Torgauer Brückenkopf, einem Festungs- und Verteidigungsgelände, das im 19. Jahrhundert entstand. Denn „hier wurde bestraft und geprügelt, die Salve des Exekutionskommandos hallte bis hinüber zur Stadt“ (O-Ton). Und: „Das Militärgefängnis war berüchtigt bei all jenen, die gezwungen waren, des Kaisers farbenfrohe Röcke zu tragen“ (O-Ton).
Dass dort im Ersten Weltkrieg auch ausländische Kriegsgefangene interniert werden, bleibt allerdings unerwähnt. Zudem geht die Reportage nicht darauf ein, dass die Brückenkopfkaserne ab Anfang der 1920er-Jahre zivil, z. B. als Wohnraum genutzt wird, und erst im „Dritten Reich“ ab August 1939 wieder Militär- bzw. Wehrmachtsgefängnis ist (vgl. Eberlein/Haase/Oleschinski 1999, S. 35–39).
Kein roter Faden
Nachdem die Reportage im DFF gesendet wird, fehlt dem Fernsehkritiker der „Berliner Zeitung“ zwar ein roter Faden, der das „allerlei Wissenswert[e] aus Geschichte und Gegenwart der Stadt“ zusammenhalte (28.4.1962). Dennoch geben die 30 Minuten heute einen Eindruck davon, welche Aufbruchsstimmung die Filmemacher am Beginn der 1960er-Jahre vermitteln wollten.
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Reise ohne Passierschein: Torgau (BRD/Westberlin 1961)
Verspätete TV-Grüße: „Ansichtskarte“ aus Schloss Hartenfels (1987)
Hubert Kintscher, der ein Jahr später dem thüringischen Rudolstadt ein filmisches Denkmal setzt („Zwischen Probe und Premiere. Die aktuelle Note einer kleinen Stadt“, 24.9.1963, 20.45 Uhr, DFF), stirbt 1965 im Alter von 40 Jahren nach kurzer, schwerer Krankheit. Sein – wenngleich der Zeit geschuldeter und bisweilen einseitiger – Blick auf die Stadt an der Elbe bleibt.
Besonderer Dank für die Unterstützung während der Recherche an Brigitta Hafiz (Deutsches Rundfunkarchiv), Pascal Straßer (Erinnerungsort Torgau, Stiftung Sächsische Gedenkstätten) sowie an das Institut für Kunstgeschichte und Archäologien Europas (Halle/Saale) und die Deutsche Fotothek (Dresden) für die Genehmigungen der Fotonutzung (Schloss Hartenfels, Festungsgelände Brückenkopf).
TV-Sendung: „Begegnungen in Torgau – Eine Reportage aus der kleinen Stadt an der Elbe“ (Erstausstrahlung: 26.4.1962, 21.05 Uhr, DFF; Wiederholung: 30.5.1962, 11.55 Uhr, DFF). Die Sendung ist im Deutschen Rundfunkarchiv (DRA), Potsdam-Babelsberg, archiviert.
Drehorte: u. a. (in chronologischer Abfolge)
- Brückenkopf
- Schloss Hartenfels (Außenfassaden, Innenhof, Wendelstein), Schlossstraße 27
- Denkmal der Begegnung (Obelisk), Elbstraße 17
- Elbebrücke Torgau
- Ritterstraße
- VEB Steingutwerk Torgau (heute: Villeroy und Boch), Hafenstraße 2/4
- Neubaugebiet Eilenburger Straße
- Leipziger Straße
- HO-Warengeschäft „Werkzeuge – Eisenwaren“, Breite Straße
- Puschkinstraße
- Brückenkopf
- VEB Fleischkombinat Leipzig, Werk IV, Schlachthof Torgau, Pestalozziweg
- VEB Torgauer Schuhfabrik „Hans Sachs“, Eilenburger Straße 4
- Katharinenstraße
- Ritterstraße
- Wolffersdorffstraße
- VEB Flachglaskombinat Torgau, Repitzer Weg 1
- Kreiskulturhaus, Rosa-Luxemburg-Platz
Filmcredits:
- Schnitt: Annemarie Reinort
- Kamera: Klaus Winter
- Redaktion: Hubert Kintscher
Verwendete Quellen:
- [o. A.]: „Barther Bibel“ bewundert. Fernsehen brachte Filmreportage über die 700jährige Stadt. In: Neue Zeit 17 (1961), Nr. 260, 5.11.1961, S. 6
- [o. A.]: Wehrmachtgefängnis Brückenkopf 1939–1945. In: Erinnerungsort Torgau. Stiftung Sächsische Gedenkstätten (abgerufen: 30.12.2024)
- [o. A.]: Zwei Fernsehjournalisten verstorben. In: Neues Deutschland 20 (1965), Nr. 193, 16.7.1965, S. 2
- Eberlein, Michael/Haase, Norbert/Oleschinski, Wolfgang: Torgau im Hinterland des Zweiten Weltkriegs. Militärjustiz, Wehrmachtgefängnisse, Reichskriegsgericht. 1999 (Schriftenreihe der Stiftung Sächsische Gedenkstätten)
- Hinrichs, Wilhelm: Wohnungsversorgung in der ehemaligen DDR. Verteilungskriterien und Zugangswege. AG Sozialberichterstattung, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Berlin: 1992
- Kintscher, Hubert: Ich klage an! In: Neues Deutschland 1 (1946), Nr. 75, 21.7.1946, S. 3
- K. M.: Deutscher Fernsehfunk. Wir sahen … In: Berliner Zeitung 17 (1961), Nr. 304, 4.11.1961, S. 6
- M.: Deutscher Fernsehfunk. Wir sahen … In: Berliner Zeitung 18 (1962), Nr. 116, 28.4.1962, S. 6
- Pijet, Georg W.: Sturzflut des Ungereimten. Vier junge Dichter von Hunderten. In: Neues Deutschland 1 (1946), Nr. 66, 11.7.1946, S. 3
- Torgau. In: Ehemalige Industrie, Volkseigene Betriebe VEB und Kombinate in der DDR (abgerufen: 27.12.2024)
Headerfoto: Schloss Hartenfels mit dem Großen Wendelstein (etwa 1960er-Jahre) / © Institut für Kunstgeschichte und Archäologien Europas/ID: 41100/Fotograf: Otfried Birnbaum