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Die Verspätung meines Lebens: Dirty Dancing (1987)

Im Sommer 1989 kommt der US-Film auch in die DDR-Kinos. Eigentlich. Denn Torgau muss sich extralang warm tanzen, bis es in der „Filmbühne“ endlich soweit ist.

Berlin, Mitte Dezember 1988. Auf der Jahrespressekonferenz stellt der staatliche Progress Film-Verleih sein Kinoprogramm für 1989 vor. 150 neue Filme sollen DDR-weit anlaufen. Darunter ist auch der Tanzfilm „Dirty Dancing“. Eigentlich war der US-Streifen weltweit schon 1987 gestartet, doch in der DDR kommt er – wie viele Filme aus dem westlichen Ausland – später in die Kinos.

Dennoch: Die Nachricht ist für DDR-Bürger fast so etwas wie ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk. Denn sie haben ja längst von dem Film gehört (so durchlässig war die Mauer dann doch). Er erzählt die 60er-Jahre-Liebesgeschichte zwischen der 17-jährigen Frances (Jennifer Grey) und dem Tanzlehrer Johnny (Patrick Swayze), und das vor allem mit viel Musik.

Offizieller Kinostart ist am 30. Juni 1989

Die läuft z. B. im Rias 2 (ein Radiosender aus Westberlin, der in der halben DDR zu empfangen ist) oder in der ARD-Musiksendung „Formel Eins“: Dort sind die Videos aus dem Soundtrack (mit Filmausschnitten) zu sehen, z. B. „(I’ve Had) The Time of My Life“ von Bill Medley im Duett mit Jennifer Warnes oder Patrick Swayzes Ballade „She’s Like the Wind“. Dass jetzt der ganze Film in den DDR-Kinos anlaufen soll, weckt die Vorfreude auf den „Kinosommer 1989“ (O-Ton: Progress).

Der offizielle Kinostart ist am 30. Juni 1989. Doch die Hauptstadt Berlin spielt wieder einmal eine Extrawurst: Denn hier läuft der Film in einer DDR-„Erstaufführung“ bereits ab Dienstag, 27. Juni, im Premierenkino „International“, dann freitags bis donnerstags um 13, 15, 17, 19 und 21 Uhr (oft auch 23 Uhr). Und das acht Wochen lang.

Berlin: Hauptstadt des „Dirty Dancing“

Aber die Schlangen vor dem Kino in der Karl-Marx-Allee werden einfach nicht kürzer: So entscheidet die Bezirksfilmdirektion Berlin, den Film ab dem 21. August im Filmtheater „Kosmos“ zu zeigen, „wo fast doppelt soviel Besucher Platz finden können wie im ‚International’“. Mit fünf, später vier Vorstellungen pro Tag. Und das nochmal zehn Wochen lang (bis 28.10.1989).

Kurzum: Ostberlin tanzt im Sommer 1989 „Dirty Dancing“. Obwohl die DDR-Presse mit ihrer Kritik zwischen „Naschwerk“ (Neues Deutschland), „präkoitativ-gymnastische[r] Gefühlsaufbereitung“ (Berliner Zeitung) und „eher sanft und nett und mit wohldosierten sentimentalen und moralischen Motiven versehen“ (Neue Zeit) schwankt. Aber sie lässt auch Leserinnen und Leser zu Wort kommen, die eine andere Meinung haben:

Ich glaube, es ist nicht die Story an sich, die den Film so sehenswert macht, sondern das Gefühl und die Musik, die in die Beine geht, ein Knistern im Kino erzeugt, etwas, das den Verstand völlig ausschaltet und fast nur Emotionen walten läßt. (Annett Bamberg, Leipzig, in: Neues Deutschland)

Schön und gut, denken damals sicher viele. Aber in Kleinstädten, wie Torgau, ist „Dirty Dancing“ Ende August immer noch nicht angelaufen. Vermutlich reichen die Kopien anfangs nicht aus, und Berlin und die Bezirksstädte haben erst einmal Vorrang. Mitunter gestaltet sich auch eine Weitergabe der Filmrollen von Kino zu Kino schwierig, weil der Film anderswo wochenlang läuft.

„(I’ve Had) The Delay of My Life“

Einige Torgauerinnen und Torgauer singen schon – hinter vorgehaltener Hand – statt „(I’ve Had) The Time of My Life“ (dt.: Ich hatte die Zeit meines Lebens) jetzt „(I’ve Had) The Delay of My Life“ (dt.: Ich hatte die Verspätung meines Lebens).

Freilich kann sich das Programm in der „Filmbühne“ im Juli und August trotzdem sehen lassen: Erst fährt die „Linie 1“ (BRD 1988) in Torgau ein (die Verfilmung des gleichnamigen Musicals über die Westberliner U-Bahn-Linie), gefolgt von „Die unendliche Geschichte“ (BRD 1984), die ausnahmsweise zwei Wochen läuft (14.– 28.7.1989). Dann kommen u. a. Loriots „Ödipussi“ (BRD 1988), „Das fliegende Auge“ (USA 1983), der Breakdance-Film „Beat Street“ (USA 1984) und die Eddie-Murphy-Klamotte „Beverly Hills Cop – Ich lös’ den Fall auf jeden Fall“ (USA 1984).

„Dirty Dancing“ in Torgauer „Filmbühne“

Am 1. September – also genau zwei Monate nach dem DDR-Kinostart – läuft endlich der Tanzfilm in der „Filmbühne“ an. Da wurden für „Dirty Dancing“ im Übrigen schon 2,5 Millionen Kinokarten DDR-weit verkauft. In Torgau werden es nicht so viele werden, schließlich hat das Kino am damaligen Martha-Brautzsch-Platz (heute: Friedrichplatz) nur etwa 500 Sitzplätze.

Dennoch läuft der Film zwei Wochen (bis zum 14.9.), jeweils um 17.30 und 20 Uhr. Dabei gilt laut Zeitungsanzeige der sogenannte 1,5-fache Eintrittspreis, der meist für westliche Importfilme erhoben wird. Ein normaler Kinobesuch für Erwachsene ist günstiger.

Jugendsendung „Elf 99“ mit Serienversion

Just am 1. September 1989 startet im DDR-Fernsehen auch die Jugendsendung „Elf 99“, benannt nach der Postleitzahl 1199, dem Sitz des Fernsehstudios im Berliner Ortsteil Adlershof. Das zweistündige Magazin ist besonders für junge Menschen gedacht und gemacht (die doch täglich Westfernsehen einschalten).

Der Coup: „Elf 99“ sendet die 13-teilige Serienversion von „Dirty Dancing“, zwar ohne Swayze und Grey, aber mit viel Tanz und Musik. Das kommt an, denn die Serie ist „neben den Musikvideos der Publikumsmagnet für die jungen Zuschauer“ (Mandel 2009, S. 24).

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Als am 13. Dezember 1989 der Progress Film-Verleih wieder zu seiner Jahrespressekonferenz lädt, verrät Chef Winfried Schade den erfolgreichsten Film 1989 in den DDR-Kinos. Es ist – wenig überraschend – „Dirty Dancing“ mit 4,5 Millionen verkauften Kinokarten. Und nicht etwa Kinobesucherinnen und -besuchern. Warum? Aus dem „International“ ist ein Fan bekannt, der sich den Film 23-mal anguckte: Hinten raus und vorne gleich wieder rein. Ob es in der „Filmbühne“ einen ähnlichen Fall gab, ist nicht bekannt.

Besonderer Dank für die Unterstützung während der Recherche ans Stadtarchiv Torgau.

Verwendete Quellen:

  • BZ: Neue Filme. In: Berliner Zeitung 45 (1989), Nr. 211, 7.9.1989, S. 7.
  • -ch: Ein Teenager mausert sich. „Dirty Dancing“ – Musikfilm aus den USA. In: Neue Zeit 45 (1989), Nr. 162, 12.7.1989, S. 4.
  • Galle, Birgit: Kinoprogramm 1989 mit viel Spannung und Spaß. Pressekonferenz der PROGRESS Film-Verleih. In: Neues Deutschland 43 (1988), Nr. 299, 19.12.1988, S. 4.
  • Galle, Birgit: Smarter Aufruhr der Gefühle nach der Art von Hollywood: „Dirty Dancing“ (USA), Regie: Emile Ardolino. In: Neues Deutschland 44 (1989), Nr. 179, 1.8.1989, S. 4.
  • Mandel, Robert: Wandel der Medien der DDR im Herbst 1989 am Beispiel von „Elf 99“. Bachelorarbeit. Hochschule Mittweida (FH) – University of Applied Sciences. Norderstedt: 2009
  • Sobe, Günter: Neo-Love Story. Im Kino: Tanzstunde mit „Dirty Dancing“ (USA). In: Berliner Zeitung 45 (1989), Nr. 153, 1./2.7.1989, S. 7.
  • [o. A.]: Aus Briefen unserer Leser: Wenn fast nur noch Emotionen walten. In: Neues Deutschland 44 (1989), Nr. 193, 17.8.1989, S. 4.
  • [o. A.]: „Dirty Dancing“ ab 21. August im „Kosmos“. In: Neues Deutschland 44 (1989), Nr. 188, 11.8.1989, S. 8.
  • [o. A.]: Im Kino ab Freitag (Woche vom 23.6.–29.6.1989). In: Berliner Zeitung 45 (1989), Nr. 143, 20.6.1989, S. 11.
  • [o. A.]: Kinoprogramm. In: Leipziger Volkszeitung 45 (1989), 1.7.–15.9.1989 (Aus dem Kreis Torgau).


Headerfoto: Dirty Dancing (USA 1987): Frances (Jennifer Grey) und Tanzlehrer Johnny (Patrick Swayze) / © Imago/Everett Collection

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